Tourenbericht Gran Paradiso 2022

Und wieder einmal rief ein Berg

 

Tourenbericht Gran Paradiso


Panische Ausdrücke, heftige Atemstöße, Anspannung pur. Sie war an zweiter Position einer Vierer-Seilschaft und stand mit dem linken Bein bis zur Hüfte eingesunken im Schnee. Mit dem Oberkörper vornübergebeugt versuchte sie sich mit aller Kraft nach vorne herauszuziehen. Ein Fehltritt in den nicht komprimierten Schnee hatte offenbar gereicht komplett im verharschten Gletscherschnee einzubrechen.

„Eleanor, take exactly the same steps. Take always the same steps!“ sprach der italienische Bergführer eindringlich und mit großer Beharrlichkeit immer wieder in Richtung seiner Gruppe, ohne auch nur einen Meter umzukehren. Dies war ja auch nicht möglich, denn die Gruppe befand sich mitten auf dem Gletscher und Schlappseil zwischen den Teilnehmern erhöht die Gefahr in eine Spalte zu stürzen. Eleanor hieß also die Unglückliche, die auf sich allein gestellt war.

Wir standen in 50 m Entfernung und betrachteten die Szene. Eine gefährliche Situation war es jedoch nicht. Die Gruppe hatte unseren Weg auf dem Gletscher Gran Paradiso gequert. Während wir nach einem dreistündigen Aufstieg von der Refugio Vitorio Emanuele II am nordwestlichen Ausläufer des Gletschers angekommen waren, war diese Gruppe von der anderen Hütte (Rifugio Federico Chabod) kommend, den nördlichen Ausläufer aufgestiegen.

Unser Weg hatte uns zunächst über blockigen Fels und einen Gebirgsbach geführt. Es folgte ein Trampelpfad auf dem Grat des ehemaligen Gletscherrandes, eine kleine Kletterpassage und danach eine flache Steigung über ein Mosaik aus großen Felsen und kleineren Steinen, z.T. schneebedeckt. Es war bereits 8 Uhr morgens geworden; Mittwoch der 29.06.22, blauer Himmel und ein von gestern noch frisch überschneiter und vom Wind glatt gefegter Gletscher.

„Wir überholen nicht!“ sagte Klaus. „Das kann ich gut verstehen“, dachte ich! Auf der anderen Seite würden meine Füße ohne kontinuierliche Bewegung nicht wärmer werden. Der bisherige Aufstieg ab 5 Uhr morgens hatte sich komplett im Schatten zugetragen und die Sonnenkante lag noch etliche Höhenmeter entfernt. Mit Betreten des Gletschers war meine Bergstiefelinnentemperatur beständig gesunken, Zustand der Füße: Eisklötze! Und das im Sommer.

„Jump on the left leg! Then move out!;“ gab der Bergführer klare Anweisung an Eleanor. Nach mehreren Versuchen hatte sie es geschafft und die Seilschaft vor uns und auch wir setzten uns wieder in Bewegung.

Wir, das waren drei Sportlehrer auf der Suche nach Ruhe und Erholung einerseits, aber andererseits mit der Lust auf körperliche Aktivität bei einer Hochtour in den italienischen Alpen. „Wahrscheinlich eine kleine Gruppe“, das hatte Klaus beim letzten Telefonat angedeutet. „Du, Markus (Smetan) und ich“. Und genau so war es auch.

Ein Parkplatz am Ende eines Ausläufers des Aostatals (Valsavarenche) war der Ausgangspunkt unserer mehrtägigen Tour. Hauptattraktion aus bergsteigerischer Sicht im Parque Nazionale del Gran Paradiso, dem ältesten italienischen Nationalpark (gegründet 1922) war der gleichnamige Gipfel (Gran Paradiso), mit einer Höhe von 4061m über N.N.. Es könnte mein erster Viertausender werden. Mit zwei Hochtour erfahrenen Bergmenschen mit jahrzehntelanger Erfahrung an meiner Seite, Inhaber diverser Lizenzen im Bereich des Berg- und Klettersports und der Kenntnis mindestens jeder zweiten Hütte in den Alpen und fast jedes Gipfels mit genauer Höhenangabe, sollte das doch klappen. Selbst, wenn es mir bisher nur punktuell vergönnt war, ausgeweitete Touren in den Alpen zu begleiten und wir ja auch nicht mehr die jüngsten waren (Durchschnitt 52,X).

Die Hinfahrt am Sonntag (26.06.2022) hatte sich kurzweilig gestaltet. Start für uns als Gruppe: Der Dortmunder Hauptbahnhof, wo ich die beiden aufpickte. Im Vormittagsbereich und am frühen Nachmittag holte mindestens einer von uns den fehlenden Schlaf der vergangenen Nächte nach. Schließlich waren wir alle drei in die Ferien reingestolpert. Später am Tag, nach der Rast am Genfer See, gab es dann auch einen regen Austausch unter uns dreien. Gesprächsthemen gab es reichlich und auch in den folgenden Tagen wurde es nicht langweilig, denn die Schnittmenge war riesig (Sport, Uni, Schule). Stau: nur ein ganz kurzer. Eine entspannte Anreise.

Die erste Nacht verbrachten wir in einem umgebauten Ziegenstall: Refuge du Tetras Lyre,

eine stilvoll renovierte und eingerichtete Herberge in der Nähe eines Flusses auf ca. 2000m Höhe am Rande eines Lärchenwaldes, 15 min. Gehweg vom Abstellplatz des Autos entfernt. Hier gab es neben den drei Speiseräumen und der Rezeption einige 9er-Zimmer mit zwei Etagen, vier Betten unten, fünf über eine Holztreppe erreichbar oben, ein Bad und WC. Recht eng alles, aber wir waren allein, und somit war es sehr komfortabel.

Am nächsten Vormittag bewältigten wir bei schönem Wetter den Aufstieg zum Refugio Vitorio Emanuele II, auf 2700m, ein längerer Spaziergang über einen kunstvoll angelegten Weg durch den kräftig grünen Lärchenwald im Steilhang, im oberen flacheren Teil ein Trail über Wiesen und zwischen Felsblöcken hindurch, über einen Bach und an Murmeltieren vorbei. Pünktlich zur Mittagszeit kamen wir oben an; Mittagspause in der Hütte. Einchecken war also erst später möglich.

Ein heftiger Wind pfiff dort oben und trotz des Sonnenscheins deuteten die hinter der Bergkette aufgestauten Wolken darauf hin, dass die Großwetterlage in den nächsten Tagen keine stabilen Verhältnisse erwarten ließ.

Einen kleinen Spaziergang auf den ehemaligen Moränenrand schlug Klaus zur Überbrückung vor, Markus war noch angeschlagen von der langen Fahrt und seiner schlaflosen Nacht, und blieb an der Hütte. Ich raffte mich auf. Oben luden waagerechte große Steinplatten zu einer liegenden Rast ein. Einmal kurz die Augen schließen... und schon war ich eingeschlafen. So könnte aktive Höhenakklimatisation funktionieren.

Zwei Stunden später waren wir wieder an der Hütte. Nicht ganz zu Unrecht fragte uns Markus, was wir unter einem „kleinen Spaziergang“ verstehen würden. Er wäre fast hinter uns hergegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Stattdessen hatte er aber zum Glück für uns schon eingecheckt und sich weiter erholt. Und weil er so früh dran war, waren wir in einem funktional eingerichteten Container ein paar Meter unterhalb des Haupthauses einquartiert, etwas ab vom Trubel und wiederum allein als Gruppe. Wie viel Betten gab es? Wieder neun! Gibt es da ein Prinzip? Mehrfach fragten wir uns, wie die Situation wohl wäre, wenn der Container mit 9 Personen komplett belegt ist. In jedem Fall zu eng. So konnten wir gut rangieren und jonglieren.

Da es immer noch recht früh am Tag war, beschlossen wir einen Erkundungsspaziergang zur anderen Seite zu unternehmen, dem Einstieg in die Aufstiegsroute zum Gran Paradiso. Schöne Steinformationen, farbenprächtige Blütenpflanzen und leuchtende Flechten beeindruckten uns und auf dem Rückweg schaute sogar der König der Alpenlüfte vorbei. Ein einzelnes Exemplar kreiste zunächst in weitem Abstand, segelte aber immer näher heran. Uns war sofort klar, dass es sich um einen Bartgeier (Gypaetus barbatus) handelte. Immer näher kam er heran, fast auf 15 Meter Entfernung und beobachtete uns ganz genau. Auch wenn es nicht das größte Exemplar war, es war eine imposante Begegnung, die uns sehr positiv stimmte. Am ersten Tag schon, was für ein Glück. Der orangerote Sonnenuntergang rundete den Tag ab.

Der nächste Tag war ein ganz besonderer: Klaus liftete den Durchschnitt, indem er auf glatte 55 rundete. Das Geburtstagswetter allerdings war bescheiden. Leichte Bewölkung. Da wir oben keinen Empfang hatten, verließen wir uns auf den ausgehängten Bollettino Meteorologico. Kleine Tropfen als ikonische Darstellung abgedruckt, deuteten an, dass es leichte Schauer geben könnte, aber erst gegen Nachmittag. So blieben wir bei dem Entschluss, eine Eingehtour auf den Tresenta zu machen (3600m). „Ein paar Tropfen können uns nichts anhaben. Im schlimmsten Fall kehren wir einfach um“ war unsere einhellige Einstellung. Und genauso kam es auch, allerdings mit einer unerwarteten Pointe. Am Gipfelkreuz angekommen, noch im Vormittagsbereich, zog es doch ein bisschen mehr zu als gedacht. Das metallene Kreuz summte. „Ich höre nichts“, sagte Klaus. „Ihr?“. Markus und ich hörten es deutlich. Dann verstummte es kurz und die Anweisung war „Jetzt schnell ein Gipfelfoto, und dann nichts wie weg hier“

Und so stürmten wir den Gipfel wieder hinab, Aussicht gab es eh keine, der Weg war von oben zum Glück besser zu erkennen als im Aufstieg. Trotzdem zwang uns ein scheinbar sich drehendes Gewitter mehrfach in die Schutzhocke. Pickel weg, großen Stein suchen und warten. Hagel. Blitz, Donner. „Ist es vorbei?“ „Nee, lass mal warten.“ „Ich find, es hat sich deutlich beruhigt.“ „Das war kein Donner, nur ein Steinrutsch!“ „Weiter?“ „Weiter!“ „Lass besser noch warten!“ „Nee, 2:1.“ „Na, gut!“. Und so arbeiteten wir uns den Hang hinab. Nässe, Kälte und Gewitter begleiteten uns. Und dann noch der Bach, den wir im Aufstieg überschritten hatten. Er war gewaltig angeschwollen und zu einem stark reißenden Fluss geworden. Einfach drüber? Das ging nicht mehr. Und so suchten wir eine Weile nach einer geeigneten Stelle für eine Überquerung. Im Nachhinein hätten wir aber doch durchwaten können, denn an der Hütte angekommen war sowieso alles durchnässt, inklusive des Rucksackinhalts. Der Trockenraum zeigte, dass wir nicht die einzigen waren, die sich unter „kleinen Tropfen am Nachtmittag“ etwas anderes vorgestellt hatten. Und all das für einen recht langweiligen „Schutthügel“ (Zitat Markus). Und die Geburtstagsfeier? Muss nachgeholt werden. Fazit: Ein Teil der Ausrüstung sollte beim nächsten Mal erneuert worden sein.

Für den nächsten Tag hatte Markus eine zuverlässige Wettervorhersage von zwei aufgestiegenen deutschen Bergsteigerinnen eingeholt, die diese im Tal noch abgerufen hatten. Mehrere Stunden Sonnenschein waren für den nächsten Tag angekündigt. Damit stand der geplanten Tour auf den Gran Paradiso nichts im Wege. Würden unsere Sachen trocknen? Wird knapp.

 

Was meine Socken und Schuhe betraf. Sie hatten sich am Morgen tatsächlich noch ein bisschen klamm angefühlt, was dann zu den kalten Füßen auf dem Gletscher geführt hatte, wo sich nun beiden Seilschaften im Zick-Zack den Gletscher nach oben schlängelten. Ein echtes Highlight: Aufsetzen der Gletscherbrillen und Betreten der sonnengefluteten Kuppe, auf der sich die beiden Aufstiegsvarianten von der Vittorio Emanuele II treffen. Viele andere Seilschaften, 2er, 3er und 4er waren nun vor uns zu sehen. Die Strahlung der Sonne war endlich deutlich zu spüren.

Im weiteren Verlauf erwartete uns eine abwechslungsreiche Steigung: über eine runde Kuppe, rechts eine hoch aufragende Felskrone, die wir gestern von unten bereits gesehen hatten, gefolgt von einem breiten flachen Plateau, dem sogenannten Eselsrücken, und schließlich der langen Geraden entlang einer Felswand zur Rechten und einem wunderbaren immer steiler abfallenden Gletscherhang zur Linken. Schließlich der Übergang vom Gletscher auf die Bergkuppe: der Gletscherschrund mit einem waagerechten Spalt links und rechts des Übertrittes. Hunderte von Eiszapfen in verschiedenen Längen neben- und hintereinander, wirkten wie ein Haigebiss.

Zwei in schwarz gekleidete junge Schweizerinnen preschten von hinten heran. Wir traten respektvoll zur Seite. Die haben es wirklich eilig. Passt zur Top-Ausrüstung, fast im Partnerlook, lange Schritte. Die vordere ist eher klein, die hintere wirkt riesig. Erscheint zunächst wie ein ungleiches Paar, aber in der Seilschaft harmonierten sie perfekt. Auch weiter oben zeigt sich: jeder Handgriff sitzt. Ein perfekt eingespieltes Team. Wollten die heute noch weitere Gipfel besteigen?

Kurze Zeit später erreichten wir den kleinen Sattel, ab dem das Einbahnstraßenprinzip galt.

Im Uhrzeigersinn erfolgte die Runde um und über den Gipfel, der Aufstieg entlang eines ausgetretenen Schneepfades mit Steiganteilen über Felsen auf der Westflanke. Dicke neue Haken in der Wand deuteten an, dass man sich hier auch sichern könnte. Doch so wild war es nicht. Vor uns eine Art Stau, hinter uns war zunächst niemand. Dann erreichten wir das Ende der Schlange, die sich vor den letzten Höhenmetern gebildet hatte. Hier musste man eine Stiege bewältigen, die senkrecht nach oben führte. Dicke Metallbügel waren dort für Hände und Füße angebracht. „Und das mit Steigeisen!“ dachte ich. Wieder einmal eine neue Erfahrung, derenthalben es mich ja auch immer wieder in die Berge zieht.

Die beiden Schweizerinnen waren vor uns, elegant schwangen sie sich nach oben und schon war die Stiege wieder frei. Danach folgten Klaus, ich und Markus. Ein Bügel ist nach hinten versetzt, unter einen Vorsprung verschoben. „Wow, sogar im Überhang klettere ich hier, auf über Viertausend Metern Höhe!“


„Also, der nach hinten versetzte Haken, der war nur für die Hände“ erklärte später Klaus auf der Hütte. „Ansonsten würde man in Rücklage geraten und das wäre total unökonomisch, fast als würde man im Überhang klettern.“ Ich schwieg. Dafür hatte es sich zu cool angefühlt.

„Eleanor! Now it´s time to take a picture!“ scherzte der Zwei-Meter-Mann von Bergführer unmittelbar vor dem Gipfel. Während er das Seil um die Hüften der auf dem Gipfel des Gran Paradiso (4061m über N.N.) installierten Madonna schlang, um seine Gruppe zu sichern und die erste seiner vier jungen amerikanischen Gäste schon oben stand, kämpfte Eleanor mit allen Vieren mit den letzten 0,4 Höhenmetern. Die rechte Hand griff schon nach dem auf dem Plateau montierten letzten Metallbügel, der Kopf war schon über der Kante zu sehen, doch der Rest des Körpers war noch vom schneebedeckten Fels verdeckt. Heftiges Atmen war zu vernehmen. Offenbar eine Art Selbstberuhigung, um die Angst nicht überhand nehmen zu lassen. Es wirkt aber so, als wolle sie den Schnee wegpusten, so wie Boulderer Kreidereste mit einer Bürste und kräftigem Nachpusten entfernen möchten, um den kleinsten Vorsprung als Widerhalt nutzten zu können. Doch da ist ja noch der dicke Stahlbügel! Eleanor kroch auf allen Vieren ins Zentrum der Platte, stand mit zitternden Beinen auf, umklammerte mit beiden Händen die Madonna und so etwas wie ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Geschafft! „Eleanor, I am so proud of you!“ hörte ich den Bergführer.

Diesen Moment hatten wir wenige Minuten zuvor erlebt und uns oben gegenseitig gratuliert.

Die Gruppe hatte zu uns aufgeschlossen.

Vor uns waren noch die Schweizer Gazellen. „Macht ihr ein Foto von uns, dann machen wir eins von euch?“ Ein klassischer Tauschhandel, wirkte aber auf der Höhe etwas formal. Gehört das auch zur Schweizer Mentalität? Egal, so machten wir es. Und während sich die beiden Schweizerinnen sputeten und zügig zur Gruppe vor Ihnen aufstießen, versuchten wir die Momente auf dem Gipfel zu genießen und noch ein paar Fotos zu machen. Nur für kurze Zeit weilte der Genuss, denn es herrschte ein gewisser Druck der nachkommenden Gruppen.

Der Abstieg dürfte dann ja wohl ein leichtes sein! Nicht so ganz, denn die einzig wirklich ausgesetzte Stelle folgte unmittelbar nach dem Gipfelblock. Es wirkte wie arrangiert. Eine sehr schmale schneebedeckte Platte war zu bewältigten, rechts zwei Haken in ca. 2,5 Meter Entfernung und Felsen ohne echte Griffgelegenheit, auf der linken Seite zwei große schräg wegestehende Felsen, zwischen denen eine Lücke klaffte. Dort ging es ein paar hundert Meter senkrecht nach unten. Und das mit Steigeisen ohne fette Griffe? „Ich habe gar nicht nach unten geschaut. Einfach zwei große Schritte. Danach wurde es wieder einfach“ berichtete später Markus, der die Passage als erster bewältigt hatte. „Der Blick nach unten war grandios“ schilderte Klaus seine Erinnerung, der als zweiter die „Überschreitung“ vollzogen hatte und für mich eine Sicherung legte. Hier war er voll in seinem Element. Mit Leichtigkeit hüpfte er von Stein zu Stein. Mir fiel das nicht ganz so leicht. Plötzlich wusste ich, wie sich Eleanor die ganze Zeit gefühlt haben musste, auch wenn ich den wachsenden Respekt vor der kritischen Stelle ganz gut kontrollieren konnte. Sollte ich zur Eleanor unserer Gruppe werden? Nein! Einmal noch tief durchatmen und dann mit Konzentration zur Tat schreiten. Der Blick nach unten? Ich scheute ihn nicht, es war etwas sehr besonderes... aber ausrutschen wäre schon nicht von Vorteil. Pst, verbotener Gedanke, nicht weiterdenken, Füße setzen, greifen, geschafft.

Bis zum Ende der Einbahnstraße waren es noch ein paar schöne Tritte und Wendungen um Felsen herum, diesmal zum Genießen.

Und dann begann der längere Abstieg entlang des Gletscherhanges bis auf den Eselsrücken. Dort machte fast jede Seilschaft eine Pause, so auch wir. Ein paar Schlucke trinken und mit ein paar Snacks kräftigen.

Der weitere Abstieg gestaltete sich genauso abwechslungsreich wie der Aufstieg, denn wir wählten die Variante über die Westflanke, dort entlang, wo die meisten anderen Gruppen aufgestiegen waren. Vor allem die letzte Passage nach dem inzwischen sulzig gewordenen untersten Schneefeld, die auf dem ehemaligen Gletschergrund verlief, war sehr besonders: glatt geschmirgelte rundliche Granitfelsen. Wellige Linien im Stein, sanfte Wölbungen, sehr schön zu gehen, kein richtiger Weg, jeder konnte sich seine eigene Spur suchen.

Inzwischen war uns auch richtig heiß, T-Shirt Wetter. Die letzten Meter zur Hütte führten wieder über die verblockten Felsen und um 14 Uhr war es schließlich geschafft. Die Terrasse des Refugio war erreicht. Nun musste noch reichlich nachgetankt werden, denn die strahlende Sonne hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Zwei Liter Wasser waren schnell vertilgt, dann wendeten wir uns der Limonade und unserem geliebten Cappuccino zu.

Die spätere Lagebesprechung beim Essen führte zum Entschluss am nächsten Morgen ins Tal abzusteigen und statt einer Nacht dort zwei zu verbringen. Hier oben gab es für uns nichts Reizvolles mehr zu tun. Den dritten Gipfel in Angriff zu nehmen, das Ciarforon (3600m), hatten wir schweren Herzens schon zwei Tage zuvor ausgeschlossen. Zu gefährlich bei den permanenten Steinrutschen. Dann lieber, vielleicht altersangemessen, regenerativ angelegte Tage, bei guter Verpflegung, zahlreichen Tassen Kaffee, lockeren Spaziergängen, Duschen, Rasieren und die Vorzüge des Mobildatenempfanges ausnutzen. Und so kam es auch, eine Wohltat für Füße und Beine, den gesamten Körper und die Seele. Bei den Spaziergängen noch eine Gämse aus nächster Nähe erspäht und eine Pflanzengalerie angelegt. Schöne Wege, sehr abwechslungsreich und am Umkehrpunkt wieder ein Schläfchen auf einem Steinbett. Herrlich!

Am Abreisetag (Samstag, 2. Juli 2022) hieß es dann mal wieder früh aufstehen. 5:30 Uhr, Frühstück, Angehen zum Auto, Einladen und kurz umziehen, Abfahrt um 7:00 Uhr in Richtung Mailand. Von dort, der Stazione Centrale, einem gigantischen monumentalen und imposanten Bauwerk, sollte es für Klaus und Markus mit dem Zug über Frankfurt nach Minden gehen. Ich war in Villach mit meiner Familie verabredet, wo diese um 18:43 Uhr mit dem Zug ankommen sollte, zwecks gemeinsamer Weiterreise nach Süden, Ziel: unbekannt

Wie wir am Abend erneut feststellten: „Wir lieben es, wenn ein Plan funktioniert“.

Dass ein Plan aber in den Bergen nicht immer funktioniert, ist einmal mehr deutlich geworden.

Bilanz: klimafreundliche An- und Abreise, Begehung eines Schutthügels, Besteigung eines Viertausender Gipfels, Streichung eines schönen, aber unsicheren Gipfels, stattdessen früherer Abstieg mit Regenerationsspaziergängen im Tal bei genussreicher Kost, Wetterextreme, der Mailänder Stazione Centrale, 273 Cappuccini (ca.), Einsicht, dass eine Tourenplanung heutzutage auf den aktuellen Daten beruhen muss und Stabilitätsbedingungen von vor sieben Jahren keine Gültigkeit mehr haben.

Stabilität und Gültigkeit fanden wir aber in unserer Dreierseilschaft, in der es immer hieß „We always take the same steps“. Gemeinsame Schritte wird es sicherlich auch in der Zukunft geben, zu dritt oder verstärkt durch andere Gipfelliebhaber.

Patrick Bathelt